
"Ich habe das Stück 1981 ... geschrieben in
Griechenland, an einer Stelle, an der ich schon mal war, wie die Junta noch dran war. Und
ich habe mich daran erinnert, wie ich das damals empfunden hatte. ... Ich habe zu der Zeit
ein Buch, ein Hörspiel, gelesen von Dylan Thomas "Unter dem Milchwald" und habe
dann die Personen dieses Ortes genommen und mein Hörspiel besetzt Und es wurde sehr
merkwürdig mit der Zeit. In dieser Stimmung habe ich dieses Stück dann geschrieben. Das
war nicht speziell auf Deutschland gemünzt. Das war die Angst vor dieser
Spießerideologie, vor dieser sehr, sehr einfachen und simplen Ideologie des Faschismus.
Deswegen fallen ja auch so viele Menschen darauf herein. Und die Angst davor hat mich zu
diesem Stück gebracht. Das kann man natürlich, wenn man will, jetzt auf die
Ausländerfeindlichkeit hier übertragen. Es ist auch manchmal gar nicht so falsch, aber
ich habe es nicht geschrieben vor lauter Angst vor Ausländerfeindlichkeit oder vor neuen
Tendenzen."
Wolfgang
Niedecken in der Talk Show "Live", 1988
"Also,
wenn ich Sie so höre, ... bin ich erstaunt über die Ausdruckskraft und die gedankliche
Tiefe, die das hat, und überlege, aus welcher Ecke das Wort "Kristallnacht"
kommt - in diesem Zusammenhang, in die Gegenwart. Und dann beschäftigt sich jemand mit
der Geschichte seiner Stadt Köln, die ja auch ihre Kristallnacht gehabt hat, sich nicht
nur erfreulich verhalten hat gegenüber ihren jüdischen Mitbürgern. Und in dem Gedicht
entdecke ich auch Angst vor der Plötzlichkeit, mit der so etwas passieren kann, vor dem
Unvorhersehbaren, das plötzlich ausbrechen kann in die Gegenwart, auf Ausländer,
auf Schwule und auf welche Minderheiten immer bezogen. Das wäre meine Interpretation
dieses unerwartet auftretenden Wortes "Kristallnacht" innerhalb des
Zusammenhangs."
Heinrich Böll
in einem Gespräch mit Wolfgang Niedecken in der TV-Sendung "Kölner
Erinnerungen" im November 1984
Kristallnacht
2005
Vom
Jubiläums-Album "Dreimal
zehn Jahre", 2005
Et kütt
vüür, dat ich mein, dat jet klirrt, dat sich irjendjet en mich verirrt, e
Jeräusch, nit
ens laut, manchmol klirrt es vertraut, selden su, dat mer't direk durchschaut. Mer weed
wach, rief die Aure un sieht, en'nem Bild zweschen Breughel un Bosch, kei
Minsch,
dä öm Sirene jet jitt, weil Entwarnung nur half su vill koss. Et'
rüsch noh Kristallnaach. In der Ruhe vor'm Sturm was ist das? Ganz
klammheimlich verlässt wer die Stadt. Honoratioren inkognito hasten vorbei - offiziell
sind die nicht gern dabei, wenn die
Volksseele - allzeit bereit Richtung Siedepunkt wütet un schreit:
"Heil - Halali" un grenzenlos geil noh Vergeltung brüllt, zitternd vüür Neid.
In der Kristallnacht. Doch die alles, was
anders ist, stört, die mit dem Strom schwimmen, wie's sich gehört, für die Schwule
Verbrecher sind, Ausländer Aussatz sind, brauchen wern der sie verführt. Denn dann rettet
keine Kavallerie, und kein Zorro kümmert sich drum. Der pisst höchsten ein "Z" in
den Schnee und fällt lallend vor Lässigkeit um: "Na und? Kristallnacht!"
En der Kirch met dä Franz Kafka-Uhr, ohne Zeiger, met Striche drop nur ließt
ne Blinde nem Taube Strubbelpeter vüür, hinger dreifach verriejelter Düür Un
dä Wächter ‘mem Schlüsselbund hällt sich em Ähnz für jet wie e Jenie,
weil'er Auswege pulverisiert un verkäuf jäjen Klaustrophobie en der
Kristallnaach. Auf dem Mark tagt das jüngste Gericht, unmaskiert, mit seinem wahren Gesicht,
werden Steine gesammelt, zu Messern gewetzt auf die, die der Lynchmob
gehetzt. Zum Beladen nur flüchtig vertäut die Galeeren stehen
längst unter Dampf wird im Hafen auf Sklaven gewartet, auf den Schrott aus dem
ungleichen Kampf aus der Kristallnacht. Do, wo Darwin für alles
herhällt,
ob mer Minsche verdriev oder quält, da, wo hinter Macht Geld ist und stark sein die Welt ist,
von Kuschen und Strammstehen entstellt. Wo mer Hymnen om Kamm sujar blööß, en
barbarischer Gier noh Profit "Hosianna" un "Kreuzigt ihn"
rööf,
wemmer irjend ne Vorteil drin sieht, ess täglich Kristallnaach.
Kristallnaach
Von der LP
"Vun drinne noh drusse", 1982
Et kütt vüür, dat ich mein, dat jet klirrt, dat sich irjendjet en mich verirrt, e
Jeräusch, nit
ens laut, manchmol klirrt es vertraut, selden su, dat mer't direk durchschaut. Mer weed
wach, rief die Aure un sieht, en'nem Bild zweschen Breughel un Bosch, kei
Minsch,
dä öm Sirene jet jitt, weil Entwarnung nur half su vill koss. Et'rüsch noh
Kristallnaach. En der Ruhe vür'm Sturm, wat ess dat? Janz klammheimlich
verlööß wer die Stadt. Honoratioren incognito hasten vorbei, offiziell sinn die nit
jähn dobei, wenn die Volkssseele - allzeit bereit Richtung Siedepunkt wütet un schreit:
"Heil - Halali" un grenzenlos geil noh Vergeltung brüllt, zitternd vüür Neid. In
der Kristallnaach Doch die alles, wat anders ess, stührt, die mem Strom schwemme,
wiet sich jehührt, für die Schwule Verbrecher sinn, Ausländer Aussatz sinn,
bruchen wer, der se verführt. Un dann rettet kein Kavallerie, keine Zorro kömmert sich
dodrömm. Dä piss höchstens e "Z" en der Schnie un fällt lallend vüür
Lässigkeit öm: "Na un? - Kristallnaach!" En der Kirch met dä
Franz Kafka-Uhr, ohne Zeiger, met Striche drop nur ließt ne Blinde nem Taube
Strubbelpeter vüür, hinger dreifach verriejelter Düür Un dä Wächter mem
Schlüsselbund hällt sich em Ähnz für jet wie e Jenie, weil'er Auswege pulverisiert un
verkäuf jäjen Klaustrophobie en der Kristallnaach. Währenddessen, om Maatplatz
vielleich, unmaskiert, hück mem wohre Jeseech, sammelt Stein, schlief et Mezz, op die,
die schon verpezz, probt dä Lynch-Mob für't jüngste Jereech. Un zem Laade nur flüchtig
vertäut - die Galeeren stohn längs unger Dampf - weet em Hafen op Sklaven jewaat, op dä
Schrott uss dämm ungleiche Kampf us der Kristallnaach Do, wo Darwin für alles herhällt,
ob mer Minsche verdriev oder quält, do, wo hinger Macht Jeld ess, wo stark sinn die Welt
ess, vun Kusche un Strammstonn entstellt. Wo mer Hymnen om Kamm sujar blööß, en
barbarischer Gier noh Profit "Hosianna" un "Kreuzigt ihn" rööf,
wemmer irjend ne Vorteil drin sieht, ess täglich Kristallnaach.
Kristallnacht
Übersetzt von
Chrischi 1998
Es kommt
vor, daß ich meine, daß etwas klirrt, daß sich irgend etwas in mich verirrt. Ein
Geräusch, nicht einmal laut, manchmal klirrt es vertraut, selten so, daß man es direkt
durchschaut. Man wird wach, reibt die Augen und sieht in einem Bild zwischen Brueghel und
Bosch keinen Menschen, der um Sirenen etwas gibt, weil Entwarnung nur halb soviel kostet. Es
riecht nach Kristallnacht. In der Ruhe vor dem Sturm was ist das? Ganz
klammheimlich verläßt wer die Stadt. Honoratioren inkognito hasten vorbei - offiziell
sind die nicht gerne dabei, wenn die Volksseele allzeit bereit Richtung
Siedepunkt wütet und schreit: "Heil Halali" und grenzenlos geil nach
Vergeltung brüllt, zitternd vor Neid in der Kristallnacht. Doch die alles, was
anders ist, stört, die mit dem Strom schwimmen, wie es sich gehört, für die Schwule
Verbrecher sind, Ausländer Aussatz sind, brauchen wen, der sie verführt. Und dann rettet
keine Kavallerie, kein Zorro kümmert sich darum. Der pisst höchsten ein "Z" in
den Schnee und fällt lallend vor Lässigkeit um: "Na und? Kristallnacht!"
In der Kirche mit der Franz Kafka-Uhr, ohne Zeiger, mit Strichen darauf nur, liest ein
Blinder einem Tauben Struwwelpeter vor hinter dreifach verriegelter Türe. Und der
Wächter mit dem Schlüsselbund hält sich im Ernst für so etwas wie ein Genie , weil er
Auswege pulverisiert und verkauft gegen Klaustrophobie in der Kristallnacht.
Währenddessen, auf dem Marktplatz vielleicht, unmaskiert, heute mit einem wahren Gesicht,
sammelt Steine, schleift das Messer, auf die, die schon verpetzt, probt der Lynch-Mob für
das jüngste Gericht. Und zum Laden nur flüchtig vertäut die Galeeren stehen
längst unter Dampf wird im Hafen auf Sklaven gewartet, auf den Schrott aus dem
ungleichen Kampf aus der Kristallnacht. Da, wo Darwin für alles herhält, ob man
Menschen vertreibt oder quält, da, wo hinter Macht Geld ist, wo stark sein die Welt ist,
von Kuschen und Strammstehen entstellt. Wo man Hymnen auf dem Kamm sogar bläst in
barbarischer Gier nach Profit, "Hosianna" und "Kreuzigt ihn!" ruft,
wenn man irgendeinen Vorteil darin sieht, ist täglich Kristallnacht.